Freitag, 1. September 2017

10. Christel Hermann




Entlebte Räume

„Wir sehen nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis die Hand der Zeit auf eine abgelaufene Weltperiode hindeutet, und dann ist unsere Einsicht in die längst verflossenen Zeiten so unvollkommen, dass wir nur noch das Eine wahrnehmen – dass die Lebensformen jetzt verschieden von dem sind, was sie früher gewesen sind“.[1]

„Wie zerborstene Schmetterlingspuppen oder -flügel schweben sie im Raum, Objekte aus Kunstharz, transparent und zerbrechlich, die Arbeiten der in Heimbach-Weis lebenden Künstlerin Christel Hermann. Entlebte Räume nennt Christel Hermann diese Objekte selbst und spielt auf den zunehmend bedenkenlosen Umgang mit Erinnerung, mit Vergangenheit an. Viele Menschen mögen sich eigentlich gar nicht erinnern, empfinden Vergangenes nur noch als überflüssigen Ballast, vielleicht ja auch deshalb, weil die Beschäftigung mit Abgelebtem stets das Vergehen von Zeit und damit die Vergänglichkeit unserer Existenz vor Augen führt. So etwas wird lieber verdrängt. Christel Hermann tilgt keine Spuren der Vergangenheit, auch nicht der eigenen. Sie finden sich in den Entlebten Räumen beispielsweise in Gestalt von einem Kindergesicht, hauchzart nur, gerade eben angedeutet, erst bei genauem Hinsehen erkennbar“, so die Kulturjournalistin Dr. Liselotte Sauer-Kaulbach.
Die große Bedeutung der preußischen Festungsanlage liegt in ihrer Vergangenheit. Im Wandel der Geschichte galt sie im 19. Jahrhundert als uneinnehmbar. Die Mauern der Festung beschützten wie ein Kokon die Menschen vor jeder Gefahr. Später fand im Innern der schützenden Hülle ein Wandel statt. So als ob eine Energie den Zustand einer definierten Situation in einen anderen überführt.
Heute erzählt dieser Ort der Verteidigung, der seine originäre Funktion verloren hat, von unserer Geschichte. Sie wird Schicht um Schicht beleuchtet und lässt so Erlebtes und Gewesenes neu erahnen. Mit jeder Erzählung des „Nichtmehrsichtbaren“ zieht neues Leben wieder ein.
„Denn keine Zeit und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“[2]


[1] Charles Darwin: Entstehung der Arten, veröffentlicht 24. Nov. 1859 in London von John Murray, zitiert in: Matthias Horx, Das Buch des Wandels, München 2011
[2] Johann Wolfgang von Goethe: „Dämon“ aus dem Zyklus Urworte. Orphisch, veröffentlicht 1820 in den Heften Zur Morphologie. Vgl. hierzu: Echtermeyer, Deutsche Gedichte, Düsseldorf 1965, S. 225, S. 15