Freitag, 1. September 2017

1. Martine Andernach







Idol

Martine Andernach sucht den Dialog, die Verbindung zur uralten Geschichte der Festung Ehrenbreitstein, angeregt durch die archäologische Sammlung des Landesmuseums. Ihre Referenzwerke sind drei ca. 15.000 Jahre alte Frauenfiguren aus der Epoche des Magdalénien (Ende der Steinzeit), die an Grabungsstellen in Gönnersdorf und Andernach gefunden wurden. Die Künstlerin, deren skulpturales Werk aus der klaren Reduktion menschlicher Gestalten und Körperfragmente auf einfache, abstrahierte, fast geometrische Linien und Formen erwächst, war, ihrer eigenen Aussage nach, ihr Leben lang von der suggestiven Gestik der Kunst der Urzeit fasziniert.
Bei den sogenannten Venus-Figuren aus Gönnersdorf und Andernach ist die Silhouette des menschlichen Körpers im Profil dargestellt. Sie sind unverziert, haben einen stabförmigen Oberkörper, weder Kopf noch Füße, dafür aber ein stark akzentuiertes, rundliches Gesäß. Dass es sich dabei überhaupt um Frauenfiguren handelt, konnte erst durch den Vergleich mit anderen, ähnlichen Fundstücken anderer Ausgrabungsorte bewiesen werden, von denen einige im Bereich des Oberkörpers eine leichte Andeutung von Brüsten vorweisen. Die länglichen, schlanken, mit wenigen Rundungen versehenen Frauendarstellungen unterscheiden sich zudem sehr stark von den ausladenden, üppigen und ausgeprägt weiblichen Formen anderer bekannterer urzeitlicher Frauendarstellungen, wie etwa der berühmten „Venus von Willendorf“, die einer noch früheren Epoche der Menschheitsgeschichte entstammt. In Bezug auf ihre Bestimmung als Kultobjekte von weiblichen Fruchtbarkeitsgöttinnen besteht in der Forschung eine ausgiebige Diskussion. Ihre nicht gänzlich bestimmbare Funktion animiert den Betrachter, selbst verschiedene Szenarien und Vorstellungen anzustrengen, wobei die Ästhetik, Denkweisen sowie die Gefühlswelt von Menschen aus längst vergangenen Zeiten bereits an sich schon ein Faszinosum darstellen.
Idol heißt Martine Andernachs Werk – vom Namen her zunächst ein Hinweis auf die Wesens- und Gestaltungsart der urzeitlichen Figuren, auf die die Künstlerin Bezug nimmt. Die gänzlich in ockergelb patinierte, emporgestreckte Cortenstahlplastik zeigt im oberen Bereich eine geometrische, langgestreckte, durch weiche Bogenschwünge anthropomorph anmutende Form, die über einen dünnen Stab mit dem sockelartigen und zugleich tragenden Unterkörper verbunden ist. Dieser untere Bereich trägt, schützt und isoliert zugleich die obere Partie, welche auf den ersten Blick als das eigentliche, zentrale Objekt wahrgenommen wird. Die Zusammengehörigkeit beider Bereiche, des oberen und des unteren, wird durch den dünnen mittigen Stab markiert, der die obere Form zugleich im Gleichgewicht hält – ein ausgesprochen wichtiger Bestandteil innerhalb der Gesamtkonstruktion der Plastik, die dadurch leicht, fragil und zugleich beschwingt erscheint.

Martine Andernachs Arbeiten, seien es Ganzkörperdarstellungen oder Fragmentpartien des menschlichen Körpers wie Köpfe oder Torsi, weisen stets eine zunehmende Radikalisierung der Flächenschnitte, charakterisiert durch die subtile Eleganz des Linienschwungs und des Gesamtkörpervolumens, auf. Jedoch fehlen ihr nie erzählerische Elemente sowie die Kontextualisierung in einem thematischen Gesamtbereich. Ihr Idol gemahnt an Arbeiten wie den, „Vogel im Raum“ von Constantin Brâncuşi oder an Naum Gabos motorgetriebene „Kinetische Konstruktion“, die, in Bewegung gesetzt, die Entmaterialisierung des durch die rotative Bewegung transparent erscheinenden Objekts nahelegt. Doch anders als bei Brâncuşi und Gabo wird bei Andernach die plastische Form nicht aufgelöst, sie droht nicht ihre Verbindung zum Sockel zu verlieren und ins Immaterielle zu entschwinden, sondern sie wird festgehalten und getragen. Sie bleibt und lässt sich allseitig betrachten. Ihre Verbindung zum Irdischen ist betont sichtbar, dem Menschen nah, lässt sich bewundern und tritt in einen dauerhaften Dialog mit dem Betrachter. Einem Idol aus Urzeiten ähnlich, vermag Andernachs Plastik die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Gottesbild aufzuzeigen, ein Bindeglied zwischen Irdischem und Überirdischem, Materie und Geist, zwischen dem schwierigen Prozess der handwerklichen Gestaltgebung und künstlerisch-geistiger Formfindung.

[Autor: Suzana Leu]
 
Studie I-III